Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen drängt die Politik, sich besseren Einblick in die Funktionsweise von Online-Netzwerken zu verschaffen.
«Wir brauchen genug Daten, um als Öffentlichkeit diese Systeme zu verstehen», sagte Haugen der Deutschen Presse-Agentur. Dafür müssten die Unternehmen verpflichtet werden, regelmäßig – «etwa wöchentlich, täglich» – Informationen bereitzustellen.
«Facebook hat der Öffentlichkeit absichtlich wichtige Daten vorenthalten» – um Mechanismen zum Verständnis des Online-Netzwerks zu verhindern, kritisierte Haugen. «Weil heute die einzigen Leute, die Facebook erforschen können, bei Facebook arbeiten, haben wir nie die Chance bekommen, eine solche Infrastruktur aufzubauen.»
Profite über das Wohl seiner Nutzer gestellt
Die frühere Facebook-Mitarbeiterin Haugen hatte eine große Sammlung interner Unterlagen heruntergeladen und dem US-Kongress, Behörden sowie ausgewählten Medien zur Verfügung gestellt. Die Informationen belegen ihr zufolge, dass der Konzern Profite über das Wohl seiner Nutzer stellt. So seien interne Hinweise auf für Nutzer schädliche Entwicklungen ignoriert worden. Facebook weist die Vorwürfe zurück.
«Das Problem von Facebook sind nicht schlechte Menschen oder schlechte Ideen», sagte Haugen. Es sei vielmehr die Verstärker-Rolle heutiger Systeme, die «die extremsten Inhalte an die meisten Menschen verteilen». Die könne abgestellt werden. «Ich denke, es gibt einfache politische Maßnahmen, die die Anreize in diesen Unternehmen verändern können.» Dazu zählt sie halbjährliche Risikoanalysen, die Online-Firmen zu ihren Diensten erstellen müssten – und zu denen Regulierungsbehörden unabhängige Einschätzungen einholen sollten.
Geschockt über neuen Namen
Hart ins Gericht ging Haugen mit Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Die jüngste Ankündigung, den Namen des Facebook-Konzerns mit dem Fokus auf die neue virtuelle Welt «Metaverse» in Meta zu ändern, habe sie schockiert. Sie sehe darin den Versuch, die Aufmerksamkeit von der Debatte über von Facebook ausgelöste ethnische Gewalt auf Videospiele zu lenken.
In ihrer Zeit bei Facebook hätte man die dafür bereitgestellten Ressourcen für den Schutz der Nutzer gut gebrauchen können. «Die Tatsache, dass Facebook sich 10.000 Entwickler für Videospiele leistet, aber nicht für Sicherheitssysteme, zeugt meiner Meinung nach von einer eklatanten Führungsschwäche.»
Besorgt auch um ihre Familie
Persönlich sorgt sich Haugen nach dem Gang an die Öffentlichkeit um ihre Sicherheit. «Wovor ich am meisten Angst habe, ist vermutlich nicht Facebook. Es ist, dass es eine Menge Leute gibt, die davon profitieren, wie das System heute funktioniert.» Sie befürchte, dass diese Leute Gerüchte über sie verbreiten könnten, die irgendjemanden radikalisierten. «Ich denke, es gibt die Möglichkeit, dass jemand Verschwörungstheorien über mich glauben und mir Schaden zufügen könnte», sagte die 37-Jährige. So stoße sie bei Twitter auf extreme Ideen über sich. Sie sei auch um ihre Familie besorgt: «Ich lese Bedrohungs-Analysen über Leute, die sich im Dark Web über meine Mutter unterhalten.»
Die Aufmerksamkeit nach ihren Enthüllungen findet Haugen «surreal», während sie generell auf ihre Privatsphäre bedacht sei. «Ich denke, dass es bei den Menschen einen Hunger danach gibt, in diese Systeme hineinzusehen, die einen so großen Einfluss auf ihre Leben haben.» Sie sei dankbar, dass sie ihre Informationen ernst nähmen.
Als sogenannte Whistleblowerin, die Fehlverhalten anprangert, genießt Haugen Schutz nach US-Recht. Seit sie Facebook im Frühjahr verließ, lebe sie persönlich von ihren Ersparnissen – die unter anderem dank früher Investitionen in Kryptowährung ausreichten. «Ich könnte 20 Jahre so weitermachen, wenn auch nicht für immer.» Rechtlich werde sie unentgeltlich von der Organisation Whistleblower Aid vertreten und sei dankbar für die Unterstützung von mehr als 1000 Spendern.