"Anton" gilt als eine der meistgenutzten Lern-Apps in Deutschland. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Fabian Sommer/dpa)

Addieren, Subtrahieren oder Deutsch üben am Computer – schon vor der Pandemie waren Lern-Apps für Schüler eine Ergänzung zum Unterricht. In der Corona-Zeit wurden sie mitunter zum Unterrichtsersatz. 

«Gerade als die Schulen von heute auf morgen geschlossen wurden, war „Anton“ für mich die Rettung», sagt eine Grundschullehrerin aus Berlin-Neukölln über die in Berlin entwickelte App, die als eine der meistgenutzten gilt. Schüler können damit zu Hause Aufgaben erledigen, die ihnen die Lehrer zugewiesen haben. Vielen macht das Lernen damit Spaß, denn für gelöste Aufgaben gibt es direkte Rückmeldungen und Belohnungen in Form von virtuellen Münzen, mit denen Computerspiele gespielt oder Avatare eingekleidet werden können.

Doch manche Eltern zweifeln an diesem Belohnungssystem. «Mein sechsjähriger Sohn hatte noch nie etwas mit Computerspielen zu tun. Ausgerechnet durch das Homeschooling hat er nun angefangen, Asteroiden abzuballern. Muss das sein?», fragt sich eine Berliner Mutter. Ein Vater hält es für bedenklich, Kinder ständig zu belohnen. «Lernen sie nicht von selbst gern?», meint er. 

Kinder werden nicht motiviert, von sich aus zu lernen

Grundsätzlich sei alles positiv, was Kinder dazu bringe, sich auch außerhalb der Schule mit Schulthemen zu beschäftigen, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. «Spiele sind allerdings keine intrinsische Motivation, die Kinder dazu bringen, von sich aus zu lernen.»  

Der Gedanke, Lernen und Spielspaß zu verknüpfen, möge clever sein, sagt Christian Groß, Sprecher des Fachverbandes Medienabhängigkeit. «Kindern, die sowieso affin für Computerspiele sind, wird der Einstieg erleichtert.» Sie bekämen das Gefühl, dass das Spielen ganz normal sei, schließlich komme der Anreiz aus der Schule und könne deshalb nicht schlecht sein. 

«Es sind einfache Mini-Spiele, die wir anbieten», sagt David Hörmeyer, Geschäftsführer der Berliner Firma Solocode, die «Anton» entwickelt hat. Viele Spiele förderten die Konzentration und seien didaktisch wertvoll. «Wenn die Kinder richtig zocken wollen, dann machen sie das nicht bei „Anton“», argumentiert der Gründer. Aus seiner Sicht sind die Spiele eher ein kleiner Anreiz, der nicht für alle gleichermaßen interessant sei. Manche Kinder interessierten sich überhaupt nicht dafür.

Auch andere Lernprogramme funktionieren mit Belohnungen: «Duolingo» verspricht: «Verdiene virtuelle Münzen, schalte neue Level frei und verbessere deine Sprachkenntnisse, während du neue Wörter, Ausdrücke und Grammatik meisterst.» Bei der App «Kekula» können Kinder digitale Taler sammeln, die sie dann gegen Youtube-Videos einlösen können. Und die App «Scoyo» verspricht unter anderem Münzen als Belohnung und zum Tausch gegen Avatare oder Bastelbögen, Ranglisten und Wasser-Battles, die für gute Laune sorgen sollen.

«Langfristig kein gutes Modell»

«Jemand, der aus Interesse und Freude lernt, wird schnell darauf trainiert, für die Belohnung zu lernen», gibt Suchttherapeut Groß zu bedenken. Wenn die Belohnung später nicht mehr stattfinde, könne das Frust erzeugen und im schlimmsten Fall sei man überhaupt nicht mehr bereit, zu lernen. 

«Langfristig ist es überhaupt kein gutes Modell, junge Menschen an Leistung oder an Lernen heranzuführen. Da wäre es eher sinnvoller, gewisse Talente und eine Begeisterung zu fördern ohne eine ständige und sofortige Belohnung», betont Groß. 

Die Entwicklung der «Anton»-App wurde vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) sowie durch die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft kofinanziert. Laut Verwaltung ist sie eine der meistgenutzten Lern-Apps. Nutzerzahlen veröffentliche das Unternehmen nicht, so Hörmeyer.

Lehrerverbandspräsident Meidinger schätzt, dass mehrere Tausend Schulen mit Anton arbeiten. Er wünsche sich eine wissenschaftliche Bewertung der App, zumal die Entwicklung mit öffentlichen Mitteln gefördert wurde. Laut Hörmeyer sind Studien in Planung und Arbeit.

Hersteller weisen Kritik von sich

«Wir kriegen mit Abstand mehr positives als negatives Feedback», betont Hörmeyer. Und wenn Lehrkräfte oder Eltern die Spiele kritisch sehen, gebe es die Möglichkeit, diese ganz abzustellen. «Manche Eltern berichten, dass ihre Kinder beim Lernen mit der App sehr motiviert sind. Wenn wir viel negatives Feedback bekämen, hätten wir den Spiele-Bereich schon ausgebaut.»

Auch die Lehrer hätten einen guten Blick darauf und könnten beurteilen, ob die Spiele ablenkend oder motivierend seien, ist Hörmeyer überzeugt. Die Neuköllner Lehrerin jedenfalls hat nichts dagegen: «Das Belohnungssystem mit dem Computerspiel ist sicherlich motivierend.» 

«Spielerisches Lernen kann sehr hilfreich sein, und man lernt mitunter schneller und besser», sagt Christian Groß. Er halte es aber für sinnvoller, Computerspiele zu entwickeln, in denen man sich in verschiedenen Lernwelten bewegen muss. So sei gleich klar, dass das Ganze ein Spiel sei, bei dem man lernen könne. 

«Wir erwarten, dass nach den Schulöffnungen wieder weniger digital gelernt wird», sagt Hörmeyer. Er glaube auch nicht, dass es das Richtige sei, den ganzen Tag vor dem PC zu sitzen. «Wir machen das nicht, um die Schule zu ersetzen, sondern es ist eine sinnvolle Ergänzung zu dem, was der größte Mehrwert an der Schule ist, und zwar der Kontakt unter den Schülerinnen und Schülern und den Lehrkräften», betont er. 

Die Berliner Mutter hat diese Erfahrung schon gemacht. Seit dem Start des Unterrichts nach dem Lockdown hat sich bei ihr die Lage entspannt, es gibt keine Diskussionen um PC-Spiele mehr: «Nach zwei Monaten ohne „Anton“ und mit Wechselunterricht fragt er nicht mehr nach Spielen.»

Von Anja Sokolow, dpa